Ein Leben für das friesische Mittelalter
Zum Tode von Landschaftsdirektor im Ruhestand Dr. Hajo van Lengen
Aurich. Zuletzt habe ich ihn vor gut vier Wochen getroffen – am 1. Oktober, beim Festakt zum 20. Geburtstag des Monumentendienstes. Er hatte aufmerksam den Reden gelauscht und sich anschließend beim Büfett stillvergnügt mit einer guten Suppe an einen Stehtisch gestellt. Viel reden wollte er nicht, aber ein wenig Gesellschaft sei ihm ganz recht, ließ er wissen.
Dr. Hajo van Lengen war ein Vierteljahrhundert Direktor der Ostfriesischen Landschaft, nachdem er zuvor neun Jahre lang die Geschicke der Landschaftsbibliothek geleitet hatte. Als er 2005 in den Ruhestand wechselte, war klar, dass das kein Rückzug werden würde. Van Lengen war ein Wissenschaftler von hohen Graden, aber für den Elfenbeinturm eignete er sich nicht. Dazu war er viel zu menschenbezogen. Statt in hohen Sphären zu schweben, erledigte er sein Tagesgeschäft, mischte auch in der Politik mit. Und wann immer er sich zeitlich etwas Luft verschaffen konnte, arbeitete er an seinen wissenschaftlichen Themen. Im Ruhestand blieb er der Ostfriesischen Landschaft und ihren Fachressorts verbunden, besuchte regelmäßig Konzerte der „Gezeiten“, hörte Vorträge, stand aber auch selbst auf dem Podium. Und immer hatte er Interessantes zu berichten.
Das wissenschaftliche Arbeitsgebiet des Hajo van Lengen war das friesische Mittelalter. In diese Richtung entwickelte er auch das Thema seiner Dissertation „Die Geschichte des Emsigerlandes vom frühen 13. bis zum späten 15. Jahrhundert“. Das zweibändige Werk wurde zu einem Standardwerk für die Region. Und es ist bis heute aktuell geblieben. Der Historiker Heinrich Schmidt (1928 bis 2022) notiert 2005 in der Festschrift für Hajo van Lengen („Tota Frisia in Teilansichten“): die Dissertation sei „ganz und gar unentbehrlich“ und „vielleicht die beachtlichste Leistung, welche die ostfriesische Mittelalterforschung bisher hervorgebracht hat“.
Eines Tages überraschte Hajo van Lengen mit mittelalterlichen friesischen Landessiegeln, die fein aus rotem Wachs den Originalen nachgearbeitet worden waren. An diesen hübschen Dingen konnte er sich herzlich erfreuen. Doch sie waren kein Selbstzweck, sondern Teil einer wissenschaftlichen Aufarbeitung. Letztlich waren die Siegel Teil eines großen Vorhabens, das seinem Herzensanliegen entsprach: Es ging um die Ausstellung „Die Friesische Freiheit des Mittelalters – Leben und Legende“, die im Jahr 2003 als groß angelegtes Projekt an mehreren Standorten in Ostfriesland zu sehen war. Sie wurde zum weiteren Highlight der Mittelalterforschung Hajo van Lengens.
Liest man sich durch seine Bibliographie, die 83 Bücher, Aufsätze und sonstige Beiträge umfasst, dann fällt ein Thema immer wieder auf – der Burgenbau. Auch er war ein Ertrag der frühen Zeit in der Region – kein Wunder, dass van Lengen hier seine Faszination thematisch fixierte und sich mit diesem Thema beschäftigte – von Burg Stickhausen bis zur Beninga-Burg in Grimersum. In seinem wissenschaftlichen Werk kommt aber auch der Stadt Emden eine besondere Bedeutung zu. Für die Reihe „Ostfriesland im Schutz des Deiches“ schrieb er ebenfalls ein Standardwerk, das bis heute Gültigkeit beansprucht, die „Geschichte Emdens von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters“.
Heinrich Schmidt hat dem Historiker wohl das schönste Zeugnis ausgestellt. Hajo van Lengen, so schreibt der Oldenburger Professor, sei ein „hervorragender Wissenschaftler, der jedem mediävistischen Lehrstuhl Ehre gemacht hätte“. Vor allem aber war van Lengen ein überaus freundlicher, offener und herzlicher Mensch. Und so wird neben seiner fundamentalen regionalen Grundlagenforschung vor allem eines in Erinnerung bleiben – sein Lächeln.
Hajo van Lengen ist in der Nacht zum 4. November im 85. Lebensjahr in Aurich gestorben.