6. September 1944: Die Geschichte eines Fotos

Emden. 1985 hatte der Journalist Herbert Kolbe (1942 bis 2014) ein Buch über die Zeit unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben: „Als alles von vorne begann“. Das Buch, in dem es um die unmittelbare Nachkriegszeit in Emden ging, erschien im Gerhard Verlag – und erwies sich als riesiger Verkaufserfolg. 2014 wollte er die Dokumentation neu auflegen und plante dafür eine Erweiterung des Programms. Kolbe wollte die Geschichte des Fußballklubs Kickers Emden aufnehmen und zudem jene denkwürdige Reportage, die sich um ein Foto rankte. Es zeigt Emden im Moment der Zerstörung und wurde von einem kanadischen Bomberpiloten aufgenommen.

Herbert Kolbe (1942 bis 2014)
Bild: Iris Hellmich

Kolbe starb, ehe es zur Neuauflage kam. Aber er hinterließ eine Zusammenfassung von drei großen Berichten aus dem Jahr 1994, die die damals 22-jährige Jungredakteurin Jana Miesen schrieb, nachdem sie den einstigen Flieger in einem Ort in der Nähe von Vancouver besucht und drei Tage lang immer wieder mit ihm gesprochen hatte.

Das Bild, das Kolbe geschenkt wurde und das bis zu seiner Pensionierung in seinem Büro hing, ist heute verschollen. Nicht verschollen aber ist der Text für sein Buch, der wohl die letzte schriftliche Hinterlassenschaft des großen Journalisten Herbert Kolbe war, dessen untrüglicher Instinkt für relevante Themen ihn nie verlassen hat.

Zu seinem Gedenken, zehn Jahre nach seinem Tod, sei dieser Text am 80. Jahrestag der Zerstörung Emdens veröffentlicht. Er wird genau so publiziert, wie Herbert Kolbe ihn hinterlassen hat.

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Statt eines Prologs

In den letzten Augusttagen des Jahres 1994, also kurz vor dem 50. Jahrestag des Gedenkens an die Zerstörung Emdens am 6. September 1944, war es dem ehemaligen EZ-Redakteur Wolfgang Lüdde nach langwierigen Recherchen doch noch gelungen, einen jener Bomberpiloten ausfindig zu machen, die an der Bombardierung Emdens an jenem Tag beteiligt waren. So schickte die Emder Zeitung eilends die Jung-Redakteurin Jana Miesen an die Pazifik-Küste des fernen Kanada in den kleinen Ort Victoria nahe bei Vancouver. Sie sollte dort den inzwischen 72-jährigen Ex-Bomber-Piloten Glenn Watson aufsuchen und jenes bis dahin einzig existierende Bild von der brennenden Seehafenstadt nach Emden bringen, das dieser Pilot im Auftrag der alliierten Militärführung aus 5000 Metern Höhe geschossen hatte. Jana Miesen, die genauso alt war wie jener Mann, als dieser Bomben auf Emden abwarf, hielt sich drei volle Tage im Hause von Glenn Watson auf. Sie kam nicht nur mit dem Bild zurück, sondern auch mit tiefen Eindrücken von einem Mann, der exakt 50 Jahre älter war als sie und offen mit ihr über alles sprach. Ihre insgesamt drei Reportagen, die im Folgenden in eine einzige verzahnt wurden und von denen zwei im September 1994 erschienen sind und eine im September des Jahres 2004, sind ebenso erschütternde wie ermutigende Zeitdokumente. Deshalb finden sie auch hier ihren Platz.

Emden, 6. September 1944 – 18.34 Uhr

„Ist das Emden? – Und das waren wir?“

Begegnung mit dem Bomberpiloten Glenn Watson, Officer des 433. Squadron der Royal Canadian Air Force. Drei Reportagen von Jana Miesen

„Fünfzig Jahre habe ich versucht zu vergessen. Und jetzt kommt ihr!“ Die Worte kommen stockend, doch ohne Vorwurf. Sie sind eher eine Erklärung. Eine Erklärung dafür, warum der Ex-Bomber-Pilot Glenn Watson 50 Jahre danach zum ersten Mal weint. Alles kommt schon in den ersten Gesprächen wieder hoch: der Kampf, die Kameraden, das Gesicht der Mutter, das des Vaters, eines wohl tüchtigen Architekten, das Bild seiner Frau, einer sichtlichen Schönheit, und die vielen schönen Jahre mit ihr. Die Hände des Bombers Watson fallen zurück in den Schoß. Sie greifen nach einem Taschentuch und fahren über die sanften blauen Augen.

Der Weltkrieg hat auch sein Leben im fernen Kanada verändert. Vor vier Generationen waren seine Vorfahren aus Schottland nach Kanada gekommen. Glenn Watson liebte dieses Land, das große und freie Kanada. Es ist eine starke Liebe. Diese Liebe zur Heimat und der Traum vom Fliegen haben ihn schon als Kind immer wieder zum Fliegerstützpunkt von Torado getrieben. Was von beiden stärker war, weiß er heute nicht mehr. Nur eines war schließlich dem jungen Mann klar: Er fühlte sich bedroht von diesem Hitler im fernen Deutschland. Die Informationen im eigenen Land und seine Fantasie taten ein Übriges. Watson beendete seine Banklehre und meldete sich für den Dienst an der Waffe – freiwillig. „Dieser Hitler schien die ganze Welt zu erobern.“ Der alte Mann legte bei diesem Satz die Hand aufs Herz. „Etwas hier drin hat mir befohlen zu gehen.“

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6. September 1944, Stützpunkt Skipton on Swale an der englischen Ostküste. 17 Mechaniker checken an diesem Morgen den Bomber „Mother“ durch. Kurz später besteigen sieben junge Männer diese Maschine: fünf Kanadier, ein Amerikaner und ein Schotte. Unter ihnen der Pilot des Bombers, der 22-jährige Glenn Watson. Die Maschine hebt ab. Nacheinander starten nun 18 Flugzeuge in Richtung Osten. Sie fliegen nicht in Formation wie die Amerikaner oder die Engländer. Jeder ist auf sich gestellt. Nur ihr Ziel ist heute nicht das gleiche. Es ist ein von den sogenannten „Intelligence-men“, den Planern am Boden, genau festgelegter Punkt. Diesmal: eine Stadt an der deutschen Nordseeküste. Emden.

Kaum ein Haus blieb unbeschädigt. Der Schutt türmte sich auf den Straßen

Keiner an Bord der 18 kanadischen Bomber weiß, warum sie ausgerechnet diese Stadt ansteuern. Wurde bis dahin den Piloten bei jedem Einsatz das genaue Ziel genannt, so war es dieses Mal nicht so. Watson kann heute nur noch logisch schlussfolgern: „Es muss eine dieser berüchtigten V 2-Bomben gewesen sein. Diese Bombe, in Deutschland auch „Geheimwaffe“ genannt, stellte die größte Gefahr für die Alliierten dar. Sie konnte ohne Probleme von Deutschland nach London geschossen werden und war so konzipiert, dass sie von einem Eisenbahnwaggon abgefeuert werden konnte. „Wir haben sie über alles gefürchtet.“ Wann immer eine solche Bombe gesichtet wurde, haben die Alliierten alles daran gesetzt, sie unschädlich zu machen. Diese große Eile, die geboten schien, könnte auch den Tagflug an jenem 6. September 1944 erklären.

Denn wenige Tage vorher war ein Aufklärungsflugzeug von einem Einsatz zurückgekehrt und will dabei in Emden eine solche Rakete gesichtet haben. Die Alliierten schickten also so schnell wie möglich ein Geschwader, um sie zu vernichten. „Wir waren – wenn Sie so wollen – nichts weiter als Taxifahrer, und dieser Angriff war ein Auftrag.“

Ein Auftrag, der eine ganze Stadt in Schutt und Asche legen sollte. Doch daran denkt Glenn Watson nicht, während er den Bomber auf Emden zusteuert. Er hat in dieser Zeitspanne genug mit sich selbst und seiner Maschine zu tun. Denn obwohl diese unmittelbar vor dem Start gründlich durchgeprüft worden war, fällt noch vor der deutschen Küste der Ölkühler des inneren Backbord-Motors aus. Eine gefährliche Situation. Der junge Pilot handelt so, wie es ihm die Air Force erst vor wenigen Monaten unter dem Kapitel „Notfälle“ beigebracht hat: Er schaltet den Motor aus, wartet, bis er sich wirklich nicht mehr rührt und legt den Hebel auf Segelflug um.

Dieser Zwischenfall hat ihn Zeit gekostet. Zeit, die er nicht mehr aufholen kann. Schon gar nicht mit dieser schweren Maschine. Watson erteilt seinem Bomber über Funk einen Befehl. Bald darauf lässt dieser eine 2000 Pfund-Bombe, die größte an Bord, in die offene Nordsee fallen, damit das Flugzeug leichter wird. Als die „Mother“ etwa eine halbe Stunde im Anflug auf Emden ist, kommt ihr das Geschwader bereits wieder entgegen – von deutscher Abwehr keine Spur. Ein Grund dafür, warum er diesen Einsatz noch heute als „wenig spektakulär“ empfindet.

Als die Maschine um genau 18.30 Uhr Emden erreicht, brennt die Stadt unter ihm lichterloh. Sie ist für die Crew an Bord nicht mehr zu sehen. Dicke Rauchschwaden hüllen sie ein. An Bord der „Mother“ macht die eingebaute Spezialkamera fünfmal klick. Dann dreht Officer Watson bei. Es ist jetzt genau 18.34 Uhr. Die automatische Kamera an Bord hat alles aufgezeichnet. Zwei Bilder beim Anflug, eines beim Abwurf der Bomben und zwei beim Rückflug. Weder jetzt noch vorher blickt Watson hinunter. Er konzentriert sich auf seine Instrumente, während ihm der Navigator den Weg weist und der Rest der Crew nach feindlichen Flugzeugen Ausschau hält. Watson: „So lief es immer.“

Die Zerstörung des Rathauses war ein traumatisches Erlebnis für die Emder

Zurück in England nehmen die Planer die Fotos in Empfang. Watson greift zu seinem Logbuch, setzt sich an den Tisch und taucht die Feder in das grüne Tintenfass. Grün steht für Tagflüge. Er schreibt: „Emden, Deutschland, Ölkühler ausgefallen, keine Gegenwehr, Tageslicht, wackelig.“ – Wenige Tage später besteigt der Pilot wieder seinen Bomber. Diesmal geht es nach Dortmund …

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Genau 50 Jahre später: Glenn Watson tritt in den Garten. Es ist draußen wieder sehr warm. Sofort flattern die Vögel in die Bäume. Er wirft Futter in ihre Schale. Die Versteinerung seines Gesichts löst sich nur langsam. Aus dem Krieg zurück verließ er die Air Force und handelte mit Lastwagen. Sieben Jahre später heiratete er Peggy. Sie war, wie er, eine Kanadierin. Sie arbeitete hart, da sein Geld für beide nicht reichte. Und Peggy hatte Erfolg. Als Repräsentantin für Coco Channel kleidete sie Königinnen, Fürstinnen und Film-Divas auf der ganzen Welt ein.

Doch da griff der Krieg plötzlich wieder nach Glenn Watson. 1952 brach der Korea-Krieg aus. Die Air Force brauchte den Ex-Offizier. Aber für einen Piloten waren die Augen mittlerweile zu schwach. Doch als Navigator konnte er noch gute Dienste leisten. Peggy folgte ihm nach Amerika.

Auch der Feind hatte sich geändert. Dennoch ähnelte der Einsatz dem im Zweiten Weltkrieg. Denn wieder bekam Watson den Feind nicht zu sehen. Bomber Watson. „Ich saß in Florida und wusste, dass es an mir und meinen Anweisungen lag, ob die Piloten heil zurückkommen. Damals in England wäre ich wenigstens noch selber mit abgeschossen worden.“

Glenn Watson als 72-Jähriger und als junger Pilot von 22 Jahren. Bilder: Jana Miesen

Als Peggy innerhalb von sechs Monaten erblindete, bat Watson um seine Entlassung. Die beiden kehrten nach Kanada zurück und mieteten ein kleines Häuschen in Victoria, eine Stadt nahe Vancouver, die sie während einer Urlaubsreise lieben gelernt hatten. Inzwischen ist Peggy schon lange tot. Es ist einsam um Glenn Watson geworden. Der ehemalige Offizier hat jeglichen Kontakt zu den ehemaligen Kameraden verloren. Auch die vielen Vorträge, die er vor jungen Fliegern über den Zweiten Weltkrieg hielt, sind seit einem Schlaganfall vor einem Jahr Vergangenheit. Das Reden fällt ihm jetzt zu schwer. Und Freunde hat er durch seine jahrelange Zurückgezogenheit keine mehr. Einziger Besuch sind ein paar Kinder aus der Nachbarschaft. Sie wissen, dass es bei dem netten Mann mit dem weißen Bart und dem großen Herzen immer etwas Schönes gibt. Auch jetzt klopfen zwei kleine Mädchen an die Scheibe. Mühsam erhebt sich Watson aus seinem Lieblingssessel und geht zum offenen Fenster. „Mister Watson“, betteln die Kleinen, „erzählen Sie uns eine Geschichte von früher?“

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„Sie sind bestimmt Stewardess?“ Langeweile, Interesse und Mitleid stehen im Gesicht meines Sitznachbarn in der Abfertigungshalle von Vancouver. Ich rücke die Tasche mit der Fotoausrüstung auf meinem Schoß zurecht und quittiere seine Frage mit einem gequälten Lächeln. Durch keine Frage der Welt lasse ich mich jetzt aus meinen Gedanken reißen. „Das ist sicher ein anstrengender Job“, posaunt es neben mir. Ich nicke und überschlage die Zeit.

Zehn Stunden noch, dann bin ich zurück in Emden. Unauffällig kontrolliere ich den Sitz meines Brustbeutels. Seit drei Tagen lege ich ihn nicht mehr ab. Denn in ihm – davon bin ich in diesem Moment felsenfest überzeugt – trage ich eine Art Kronjuwel: ein unscheinbares Foto, 13 Zentimeter breit und zwölf Zentimeter hoch, mit ehemals weißem, jetzt vergilbtem Rand. Das Motiv: Emden am 6. September 1944 um 18.34 Uhr aus 5000 Metern Höhe. Ein Bild, das bisher nur ganz wenige Menschen gesehen haben und von dem niemand überhaupt etwas weiß. Fotograf: der kanadische Offizier Glenn Watson. Und von ihm komme ich gerade.

Aufräumarbeiten und Neubeginn in der Neuen Kirche. Noch aber kann man durch ein Loch in der Außenmauer nach innen sehen

Erst am Morgen nach meiner Ankunft in Vancouver hatte ich mich getraut, den ehemaligen Bomberpiloten nach diesem Bild zu fragen. Zu groß war mein Respekt. Ich hatte gerade mein Volontariat beendet, war frisch gebackene Redakteurin, kein abgebrühter Profi. Ich brauchte Vertrauen, musste den Menschen kennenlernen, in dessen Keller dieses Zeugnis des Wahnsinns über fünf Jahrzehnte geschlummert hatte. Aus Glenn Watson musste für mich erst „Whipper“ werden, wie ihn seine Kameraden früher genannt hatten. Erst dann konnte ich ihn um diese Kostbarkeit bitten.

„Ach ja, das Foto“, murmelte er, schlurfte zu einem Tischchen am Kamin, auf dem es offenbar schon gewartet hatte. Die Geschichte des Bildes ist eine ganz eigene, die schnell erzählt ist. Zwei Monate nach der Bombardierung Emdens hält Glenn Watson einen Brief des kanadischen Verteidigungsministers in Händen. Darin dankt dieser dem Offizier für dessen Einsatz in Deutschland und zeichnet ihn mit dem höchsten militärischen Orden Kanadas aus. Ein Mitglied seiner Crew schleicht sich daraufhin in das Hauptgebäude und entwendet das Bild vom brennenden Emden. Er schenkt es seinem Offizier zu dessen Ehrung … Glenn Watson kommt vom Kamin zurück und legt es auf den Esstisch: „Hier ist es.“

Mit klopfendem Herzen habe ich es in beide Hände genommen. Und schweißgebadet habe ich es zwei Tage später in meinem Brustbeutel durch die Flugabfertigung getragen, aus Angst, ein kanadischer Zollbeamter könnte es beschlagnahmen.

Noch eine Woche zuvor war dieses Foto nichts weiter als das Andenken eines kanadischen Kriegsveteranen an seine höchste militärische Auszeichnung. Bis an einem Freitagabend – eine Woche vor dem 50. Jahrestag der Bombardierung Emdens – mein Chefredakteur nach jahrelangen und offenbar elend-schwierigen Recherchen von der Existenz dieses Bildes erfuhr. Und innerhalb von Sekunden verwandelte sich das einstige Geschenk junger kanadischer Soldaten an ihren Kameraden „Whipper“ im fernen Vancouver in ein zentrales Dokument Emder Zeitgeschichte. Nie wieder habe ich so eindrucksvoll erlebt, wie das Auge eines Journalisten den Wert eines Fotos explodieren lässt.

Herbert Kolbes Buch, das sich mit der Zeit direkt nach dem Kriegsende beschäftigt, als alles von vorne begann

Ich selbst hatte an diesem Freitagabend gerade die Fernsehseiten der Emder Zeitung zum Druck freigegeben, räumte meinen Schreibtisch auf und überlegte, wohin ich am Wochenende reisen könnte. Da rief mich mein Chefredakteur in sein Zimmer. Was mochte er jetzt noch von mir wollen? Ich hatte mich noch nicht gesetzt, als Herbert Kolbe mich fragte: „Waren Sie schon mal in Vancouver?“ – Was hätte ich je im fernen Vancouver gesollt? Verwirrt schüttelte ich den Kopf. „Umso besser“, sagte er. „Dann fliegen Sie übermorgen hin.“ Über eine halbe Stunde legte er mir auseinander, was ich dort zu tun habe und sagte schließlich: „Sie sind noch sehr jung! Aber gerade deshalb!“ Und dann kam es noch einmal: „Vor allem das Bild! Es liegt vermutlich in irgendeiner Schublade oder Zigarrenkiste. Es muss nach Emden. Es gehört hierher. Ich weiß, dass dieser Mister Watson es uns überlässt. Aber wir müssen es persönlich bei ihm holen.“

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Zehn Jahre ist das jetzt her. Zehn Jahre vollgepackt mit Erlebnissen, die um mein Erinnerungsvermögen wetteifern. Aber diese eine Erinnerung hat sich eingebrannt. Noch immer fühle ich als wäre es gestern gewesen, wie meine Absätze in dem langhaarigen Teppich des Wohnzimmers eines kanadischen Vororthauses versinken. Ich rieche den Staub, der sich im Laufe der Jahre auf die selbstgebastelten Kulissen für die Modellflugzeuge gelegt hat. Ich höre unser Lachen, als wir bei einer „Schatzsuche“ im Keller „Whippers“ Uniform von damals aus dem Seidenpapier schlagen und er sich hineinzwängt. Und ich erschrecke über seine Hilflosigkeit, als er den Blick von den Bildern der Emder Trümmerfrauen hebt, die ich ihm in dem Buch „Als alles von vorne begann“ zeige.

Zum ersten Mal in seinem Leben sieht er in diesem Buch nun Bilder einer Stadt, an deren Bombardierung er selbst beteiligt war. Lange ruhen seine Augen auf den Bildern der zerstörten Stadt. Die Blicke wandern zu den abgebildeten Menschen, die das Inferno überlebten und nun einen neuen Anfang setzen mussten. Aus „Whipper“ wird innerhalb von Sekunden wieder Glenn Watson, der Mann, der all dies nie an sich herangelassen hatte. Jetzt schweigt er. Dann löst sich der Kloß im Hals. „Oh, mein Gott“, stöhnt er auf. „Ist das Emden? – Das waren wir …?“

Große Faldernstraße nach dem 6. September 1944. Bild: Stadtarchiv

Glenn Watson blättert vor und zurück. Es arbeitet in ihm. Er, der die deutsche Sprache nicht beherrscht und deutschen Boden nie betreten hat, er, der an der Bombardierung von 32 deutschen Städten beteiligt war, darunter Köln, Kiel, Dortmund, Essen, er klebt mit seinen Augen an den Bildern. Immer wieder Trümmer, immer wieder Menschen. – Dann kommt die Frage völlig unvermittelt. Er stellt sie in Deutsch: „Lieben Sie Emden!“ – Zunächst verstehe ich vor Überraschung meine eigene Muttersprache nicht. Er wiederholt die Frage und betont dabei jede Silbe: „Lieben Sie Emden?“ – Ich sage nur: „Alle Emder lieben ihre Stadt.“

Block, Stift und Diktiergerät sind in meiner Tasche geblieben. Dies ist kein Interview. Dies ist ein Gespräch. Ein Gespräch zwischen zwei Nationen, zwei Generationen, zwei Menschen, 72 Jahre der eine, 22 Jahre die andere. Ein halbes Jahrhundert trennt uns. Ich bin exakt so alt wie Watson, als dieser Bomben über Emden abwarf. – Wir reden zusammen, wir schweigen zusammen. Nebenbei kochen wir uns frischen Früchtetee, kaufen Hamburger und Pommes bei McDonalds gleich um die Ecke und tanken seinen Thunderbird. Stolz zeigt er mir, dass es an der Tankstelle keinen Kassierer mehr gibt. Die Rechnung wird automatisch von der Kreditkarte abgebucht. Wann immer ich später, während meiner Jahre in Detroit in den USA getankt habe, musste ich beim Einstecken der Kreditkarte an Glenn Watson aus Kanada denken …

Da lebte er schon lange nicht mehr. Drei Jahre nach unserem Treffen, nach einem Paket mit den übersetzten Artikeln der Gedenkausgabe zum 50. Jahrestag der Zerstörung der Stadt und einem VW-Modellauto, nach ein paar Briefen von ihm und mir, nach Telefonaten und Päckchen mit deutschen Weihnachts-CDs und Dresdner Stollen, erhielt ich eines Tages einen Brief von einem Nachlassverwalter. Glenn Watson war tot. Gestorben in seinem Haus bei Vancouver nach kurzem Krebsleiden. Ich schrieb zurück, weil ich Blumen ans Grab schicken wollte und erfuhr, dass seine Asche an genau jenem Fleck vor Kanadas Küste verstreut wurde, den er mir bei meinem Besuch gezeigt hatte …

Emden – eine Trümmerwüste. Bild: Stadtarchiv Emden

Drei Tage haben Glenn Watson und ich jede wache Minute geteilt. Keine davon haben wir vergeudet. Erst als er mich an meinem letzten Tag mit seinem Thunderbird zum Flughafen fährt, schweigen wir. Es ist alles gesagt. Wir wissen, dass wir uns in unserem Leben nicht mehr wiedersehen werden. Ich bin ihm dankbar für dieses seltene berufliche, aber vor allem persönliche Geschenk. In den drei Tagen unseres Zusammenseins sind aus Glenn Watson und Jana Miesen nicht nur „Whipper“ und Jana geworden, wir wurden zu so etwas wie alte Freunde, ja fast zu Großvater und Enkelin. Zurück bleibt die Erinnerung an einen Menschen. Und an die langen Gespräche, die ich mit ihm hatte. Und sie mahnen mich, nicht zu urteilen, sondern nachzufragen, um zu verstehen.