Streiflichter der Aufklärung

Teil 6: Musterland der Aufklärung – China

Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.

Von DR. MICHAEL WEICHENHAN

Emden. Im Jahre 1582 christlicher Zeitrechnung begann für Europa ein neues Kapitel. Es begann nicht mit einem donnernden Kanonenschuss, nicht mit einem Aufstand aufgebrachter Massen oder vergleichbaren sensationellen Ereignissen, sondern geradezu unmerklich, so unscheinbar wie die Quelle, die allmählich zu einem Fluss anwächst. In diesem Jahr setzte der italienische Jesuit Matteo Ricci (1552 bis 1610) seinen Fuß auf chinesisches Territorium, was den Anfang einer facettenreichen Faszinationsgeschichte markiert, den Beginn eines Austauschs, der den östlichen mit dem westlichen Teil des eurasischen Kontinents verknüpfte.

Der Blick der Europäer richtete sich nach Asien: nach Japan und China, nach Indien und Persien. Das hatte Auswirkungen auf die Wirtschaft, es entstanden bereits im ausgehenden 16. Jahrhundert Handelsnetze, die Ostasien, Europa, Teile Afrikas und des amerikanischen Kontinents verbanden. Aber nicht um die Wirtschaft, den Handel mit Sklaven und den Import von Seide, Baumwolle, Tee und Porzellan soll es heute gehen, sondern um kulturelle Beziehungen.

Pater Matteo Ricci in traditionell chinesischer Kleidung, neben ihm eine Armillarsphäre. Shanghai, Xu Guangqi Memorial Hall (gemeinfrei)

Die christlichen Missionare, Ricci und seine Begleiter, die aus dem durch quälende Religionsstreitigkeiten und zahllose Kriege zermürbten Europa kamen, fanden im „Reich der Mitte“ einen wohlorganisierten, zentral verwalteten Staat von erstaunlicher Größe vor, der mit Stolz auf das hohe Alter und das geistige Niveau seiner Kultur blickte. Ricci erkannte sehr schnell, dass die chinesische Zivilisation der eigenen mindestens ebenbürtig, ja dass allenfalls das längst vergangene Römische Imperium diesem Staat vergleichbar war.

Die Jesuiten lernten Chinesisch und erstellten Wörterbücher, sie arbeiteten sich in erstaunlich kurzer Zeit in das chinesische Schrifttum ein, übersetzten ihrerseits mathematische und astronomische Werke ins Chinesische; Ricci selbst verfasste außerdem Abhandlungen über verschiedene moralphilosophische Fragen, selbstverständlich auf Chinesisch. „Pater Matteo war überhaupt der erste, der die chinesische Literatur studierte, und er war auf diesem Gebiet, das er ja selbst erst erlernen musste, derart bewandert, dass es ihm die Bewunderung der Gebildeten eintrug, denen noch nie ein Ausländer begegnet war, von dem sie etwas hätten lernen können“, vermerkt er stolz in seinen hinterlassenen Aufzeichnungen, die ein Ordensbruder ins Lateinische übersetzte und die unter dem Titel „De Christiana expeditione apud Sinas suscepta ab Societate Jesu“ (Von der christlichen Mission in China, unternommen von der Gesellschaft Jesu) in Europa das Bild von China nachhaltig prägten.

Die China-Mission stellt einen der nicht gerade häufigen Fälle dar, in denen Europäern Grenzen aufgezeigt wurden, und es waren die Jesuiten, die sie von vorn herein akzeptierten. Erstaunlich für die Mitglieder eines Ordens, der bei aller intellektueller Brillanz, für die er berühmt und gefürchtet war, in den konfessionellen Auseinandersetzungen in Europa nicht gerade Zurückhaltung oder gar Toleranz auf seine Fahnen geschrieben hatte. Anders im fernen China. Voraussetzung für eine christliche Mission war, die dortigen Sitten und Gebräuche allererst zu verstehen und auch zu respektieren. Die Jesuiten passten sich an, und zwar in einem Maße, dass es anderen Missionaren vorkam, als seien sie kaum mehr Christen, sondern selbst zu Chinesen geworden.

Auf Grund der Verdächtigungen und Denunziationen unter den rivalisierenden Orden, flankiert von päpstlichen Reglementierungen, wurde die China-Mission im Grunde kein großer Erfolg. Am Ende zog der chinesische Kaiser aus den Zänkereien den Schluss, dass die Anwesenheit der Europäer ihrem Reich doch mehr Unruhe als Nutzen brachte, zumal Dominikaner und Franziskaner, anders als die Jesuiten, ihm wissenschaftlich nichts zu bieten hatten. Der letzte der Nachfolger Riccis, Joachim Bouvet, verstarb 1730 in Peking, einsam und geehrt. Das Experiment, Europa und China zu verbinden, war gescheitert.

Die Johannes a Lasco Bibliothek besitzt unter der Signatur Hist. 4° 166 M die zweite Auflage von Riccis Reisebericht, Lyon 1616. Ricci ist die Figur auf der rechten Seite

Dennoch haben in Europa die von Ricci und seinen Ordensbrüdern im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert vermittelten Informationen über jenes ferne Reich im Osten einen tiefen Eindruck hinterlassen; davon legen die zahlreichen „Chinoiserien“ – Porzellan, Lackmöbel und Tapeten – und Bauten wie das 1720 bei Dresden von August dem Starken erbaute Schloss Pillnitz Zeugnis ab. Aber damit nicht genug. Ein neues Kapitel in der Kulturgeschichte besteht ohnehin nicht in ein paar Moden. Vielmehr hat das, was wir die aufgeklärte Denkweise nennen, sich von den ins Lateinische übersetzten Texten der klassischen chinesischen Literatur und den Darstellungen der zumeist aus Frankreich stammenden Patres inspirieren lassen.

Dem Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 bis 1716) schwebte ein umfassender Austausch zwischen europäischen und chinesischen Gelehrten vor. Sein einflussreicher Anhänger, der Mathematiker und gefeierte Philosoph Christian Wolff (1679 bis 1754) trieb die Begeisterung für die chinesische Philosophie so weit, dass er damit einen sehr handfesten Skandal an der Universität Halle heraufbeschwor.

Er entstand aus einer zunächst wenig aufsehenerregenden Rede, die der scheidende Prorektor Wolff an der jungen zu Preußen gehörenden Universität am 12. Juli 1721 gehalten hatte. Das war ein Akt der akademischen Routine, das Publikum war des Lateinischen kundig, der Sprache der gebildeten Welt. Thema der Ausführungen: „De sapientia Sinensium“ – über die Weisheit der Chinesen. Wolff musste damit einen Nerv getroffen haben, denn die rein auf den Bereich der Universität beschränkte Rede zu Ende eines Semesters schlug derart Wellen, dass reichlich zwei Jahre später, am 8. November 1723, der preußische König Friedrich Wilhelm, bekannt als „Soldatenkönig“, seinem berühmten Philosophieprofessor die Aufforderung zustellen ließ, „binnen 48 Stunden nach Empfang dieser Ordre die Stadt Halle und alle unsere königlichen Lande bey Strafe des Stranges“ zu verlassen. Erbost hatte der vom Pietismus geprägte König einräumen müssen: „Ich habe das nit wuhst, das der Wolf so gottlose ist“. Dass Wolff sein Amt ausgerechnet dem Theologieprofessor Joachim Lange (1670 bis 1744), einem erklärten Pietisten, übergeben hatte, der sich über Wolffs Rede bis aufs Blut ärgerte, gab dem Skandal seine besondere Würze.

Johann Georg Wille, Christian Wolff. Kupferstich 1750 (gemeinfrei). Wolff galt zwischen 1710 und 1740 als der führende Kopf der Aufklärung, seine oft mit „Vernünftige Gedanken von“ eingeleiteten Bücher über Gott, die Welt, die Seele, über Mathematik, Physik und Metaphysik prägten Philosophie und Theologie nicht nur im Deutschen Reich

Worin bestand nun eigentlich der Skandal, worin die Gottlosigkeit? Um das zu verstehen, muss man sich klarmachen, dass die Jesuiten, denen selbstverständlich auch Wolff alle seine Kenntnisse über China verdankte, der Auffassung waren, dass es im fernen Reich der Mitte zwar eine praktische Philosophie, also eine Ethik, gebe, die für die Regierung des Landes auch verbindlich sei, aber keine „Religion“ im strengen Sinne des Wortes. Kaiser und Beamte folgten den Lehren eines Weisen aus alter Zeit, dessen Name in der latinisierten Form Confutius (wir schreiben heute: Konfuzius) lautet. Dieser, selbst ein staatlicher Würdenträger aus dem fünften vorchristlichen Jahrhundert, hatte für seine Anhänger Lebensregeln aufgestellt, die später gesammelt, aufgezeichnet und als Richtschnur des Lebens überliefert wurden. Aber, und das war für die Abendländer das Sensationelle, dieses Regelwerk beanspruchte nicht, sich einer Offenbarung zu verdanken. Konfuzius war kein Überbringer eines göttlichen Gesetzeswerkes wie der Mose der Bibel oder wie Jesus Christus der göttliche Künder eines neuen Gesetzes. Er stützte sich vielmehr wiederum auf Weisheitslehren, deren Ursprung sich in den Tiefen der Vorzeit verlor.

Für die christlichen Missionare in China war dies zwar verblüffend, bedeutete aber, dass die Verkündigung des wahren Gottes den chinesischen Lehren nicht zuwiderlief, sondern sie lediglich um die religiöse Dimension erweiterte. Ganz unabhängig davon, ob dies nun zutrifft oder nicht – im europäischen Zusammenhang bedeutete allein die Tatsache, dass es einen offensichtlich wohlregierten Staat ohne die richtige Gottesverehrung gab, eine gewaltige Herausforderung. Denn nicht nur unter Theologen herrschte die Auffassung, dass zu einem sittlichen Leben die Religion die Voraussetzung, die gute Regierung eines Staates von der rechten Verehrung Gottes bedingt wurde.

Wolff hingegen zog aus den Berichten aus China den Schluss, dass die Chinesen, denen der Schöpfer der Welt und der Erlöser der Menschheit ja völlig unbekannt waren, allein auf die Kräfte der Natur gestützt die Vervollkommnung der Tugenden gelungen sei (S. 53). Das klingt nicht nur nach einem aufklärerischen Programm, es war als solches gemeint.

China wurde so zu einer Art Modell eines Gemeinwesens, dessen Moralität sich ausschließlich auf die natürliche Vernunft stützte. Es zeigte, dass es durchaus möglich war, das Zusammenleben von Menschen in einem Staat zu organisieren und dabei lediglich auf die dem Menschen von Natur gegebenen Fähigkeiten aufzubauen. Dem möglichen Einwand, dass das gute Handeln lediglich in einer bloßen Anpassung an Regeln bestehen würde – so wie wir beispielsweise Verkehrsregeln befolgen, ohne dabei aber moralisch zu handeln –, begegnete Wolff mit Hinweis auf entsprechende Ausführungen des Paters Philippe Couplet (1623 bis 1693).

Der hatte ausdrücklich festgestellt, dass es nach den Lehren des Konfuzius nicht genüge, entsprechend Regeln und Üblichkeiten zu handeln, sondern das gute Handeln „aus dem Innern des Herzens“ kommen müsse, also aus echter Überzeugung, das Richtige zu tun. Seine Pflichten solle man gern und mit Freude verrichten. Der moralische Wert eines Menschen sei „nicht nach dem äußeren Werk zu beurteilen, sondern nach dem inneren Zustand der Seele“ (S. 54).

Es ist klar, dass Wolff sich für die Philosophie der Chinesen nur interessierte, soweit sie einen Beitrag zu zeitgenössischen Diskussionen zu leisten versprach. Wolff gab unumwunden zu, dass sie vollkommen seinen eigenen Überzeugungen entsprach (S. 103f.) Das ferne Reich der Mitte war der Spiegel, an dem sich Herrscher und gebildete Geister Europas ein Beispiel nehmen sollten. So plädierte Wolff ganz im Geist der Toleranz für religiöse Abrüstung: Zermürbende Streitigkeiten (die auch zu Wolffs Zeiten an der Tagesordnung waren), von Kriegen zu schweigen, waren überflüssig, denn das Beispiel China bewies ja, dass Moralität auch ohne Religion entstehen und gedeihen konnte.

Als höchstes Gut galt dort, so meinte Wolff, nicht die Einsicht in höchste Wahrheiten, sondern unablässiges Streben nach Selbstvervollkommnung. Jeder Mensch war somit, unabhängig von seiner religiösen Einstellung, in der Lage, des höchsten Gutes teilhaftig zu werden. Zugespitzt formuliert: selbst Atheisten konnten moralisch handeln und ein funktionierendes Gemeinwesen aufbauen. Und schließlich ließ Wolff in seiner Rede durchblicken, dass eines Herrschers bester Ratgeber der Philosoph sei – wie eben Konfuzius. Politikberatung stellte bereits für Philosophen des 18. Jahrhunderts ein verlockendes Betätigungsfeld dar. Freilich wurde nichts daraus: Wolff wurde stattdessen, nachdem er des Landes verwiesen worden war, umgehend Professor für Philosophie im hessischen Marburg.

Christian Wolff, Rede über die praktische Philosophie der Chinesen, Frankfurt/M. 1726. Die Ausgabe der Rede ist, wie das Titelblatt erklärt, um Anmerkungen vermehrt, in denen Wolff seine Auffassungen untermauerte. Die Zitate erfolgen nach dieser Ausgabe

Mit der Vertreibung Wolffs aus Halle endeten die Auseinandersetzungen um seine aufgeklärte Philosophie, den vermeintlichen Atheismus und die Staatsführung der Chinesen nicht. Vielmehr nahmen sie in einem politischen Intrigenspiel der 1730er Jahre kräftig an Fahrt auf. Dem werden wir uns in einem späteren Beitrag widmen. Heute interessiert uns, was aus dem Bild Chinas als aufgeklärtem Musterstaat wurde.

Ein Blick in die einschlägigen Nachschlagewerke der Zeit zeigt, dass dieses Bild recht bald verblasste. Nicht weil das Interesse am fernen Reich der Mitte zurückgegangen wäre. Aber das Wissen, das nach wie vor in erster Linie von den in China lebenden Jesuiten nach Europa kam, ergänzt durch Erfahrungsberichte von Händlern, die mit ihren Geschäftspartnern die üblichen Erfahrungen mit Betrügen und Betrogenwerden machten, dieses Wissen war zu vielschichtig geworden, um noch ein eindeutiges Bild zu ergeben. Man wusste um Magie und andere Praktiken, die einem Europäer schlicht als „Aberglauben“ erschienen, man hatte auch eingesehen, dass es auch Strömungen unter den Anhängern des Konfuzius gab, die dessen Lehren keineswegs nur als eine natürliche Ethik ohne religiöse Untermauerung auffassten. In der „Encyclopédie“ wurde zwar das außerordentlich hohe Alter der chinesischen Philosophie hervorgehoben und sie mit antiken Systemen verglichen, aber die aufklärerischen Gelehrten und Philosophen, die am Anfang des 18. Jahrhunderts geboren waren, suchten Vorbilder nicht mehr in fernen Reichen und der Vergangenheit, sondern in ihren eigenen Vorstellungen.