Von Pfeifenköpfen und Üllern

Emden. Wenn es einen klaren Kopf braucht, macht Thomas Schlunck einen kleinen Spaziergang über den Wall. Er ist viel beschäftigt – beruflich, ehrenamtlich – und so bürgert sich der Weg über den Wall ein. Allerdings ist Schlunck nicht auf den offiziellen Wegen zu finden, sondern dort, wo die Bahnen nicht vorgezeichnet sind und sich normalerweise keine Passanten aufhalten. Dort senkt er den geschulten Blick gen Boden und beobachtet die Erdkrume. Was er dabei findet, sind Relikte der alten Stadt. Dafür muss er nicht graben oder sich technischer Hilfsmittel bedienen. „Meine besten Freunde sind die Maulwürfe“, sagt Schlunck. Denn die kleinen Buddeler wenden den Boden um und bringen zu Tage, was in ihm schlummert. Mal sind es Scherben von Fliesen, Keramik, mal zerbrochene Tonpfeifen, mal auch sonderliche Kugeln aus hartgebranntem Lehm, deren Funktion zunächst nicht klar ist.

Fachmann für Deichverteidigung, Sondengänger, Dozent und Wallgänger: Thomas Schlunck. Bilder: Wolfgang Mauersberger

Thomas Schlunck war bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand in der Kommunikation im Volkswagenwerk tätig. Ehrenamtlich ist er seit jungen Jahren beim Technischen Hilfswerk THW) zu finden. Dort arbeitet er als Fachberater und technischer Berater für Deichverteidigung und Hochwasserschutz, weiterhin ist Schlunck seit Jahren als Dozent am THW-Ausbildungszentrum in Hoya tätig. Darüber hinaus aber hat sich der Vielbeschäftigte zum zertifizierten Sondengänger für die Ostfriesische Landschaft ausbilden lassen und gehört zu jener kleinen Mannschaft von Spezialisten, die 2021 auf einem Feld bei Filsum einen Hort von 96 römische Münzen fand. Ein spektakulärer Fund, der als Ausstellung an vielen Orten Ostfrieslands gezeigt wurde.

Aber was Schlunck in den letzten zehn Jahren auf dem Wall gefunden hat und immer noch findet, ist so umfangreich, dass die Archäologen der Ostfriesischen Landschaft, denen alle Funde zur Begutachtung übergeben werden, einen Teil davon jüngst in ihrer jährlichen Fundchronik im Emder Jahrbuch 2024 aufführten – speziell Tonpfeifen und Lehmkugeln. An den Tonpfeifen, die nahezu alle zerbrochen sind, interessiert ausschließlich der Pfeifenkopf. „Diese Köpfe sind nämlich alle gestempelt und insofern zu identifizieren“, sagt Schlunck und zeigt einen niederländischen Aufsatz vor, in dem eine Unzahl von Stempeln abgedruckt sind. So kann er die zeitliche Einordnung seiner Funde selber vornehmen. Die Spanne dabei ist groß. Sie reicht vom 15. bis zum 19. Jahrhundert.

Ein großer Üller

Das Suchen und Finden hat in der Familie Schlunck Tradition. Schon der Großvater war Feldbegeher für Archäologen und gab an den Enkel weiter, was er für Erfahrungen machte. „Man muss ein Auge dafür haben“, sagt Schlunck. Seine Suche bleibt auch selten unbemerkt. Häufig kann er mit wenigen Worten erklären, was er da treibt, wenn er abseits der gängigen Wege immer wieder gebückt den Boden betrachtet. Jüngst hätten ihn Passanten dann aber doch verblüfft, sagt Schlunck. Da sei er gefragt worden: „Suchen Sie was zu essen?“ Und er wurde aufgeklärt, dass man in früheren Zeiten die Kühle in den Wällen genutzt habe, um Speisen aufzubewahren. Die wurden in großen Tontöpfen im Boden vergraben. Und in der Tat hatte Schlunck dunkle Tonscherben gefunden – womöglich von einem zerbrochenen Essenstopf.

Auf dem Meister-Geerds-Zwinger hat er dann noch andere Funde gemacht, die er zunächst nicht zuordnen konnte. Runde Kugeln von beachtlicher Größe, farblich zwischen hellgrau und dunkelbraun einzuordnen – die meisten zerbrochen. Die Ostfriesische Landschaft konnte weiterhelfen: Es handelt sich bei diesen Kugeln – sogenannte Üller – um Kartätschen für Kanonen, also um eine Art Schrotkugeln. Ob sie wirklich zum Einsatz kamen oder als Ersatz für teure Munition bei Schießübungen dienten, ist nicht klar. Sie sind schwerpunktmäßig dem 17. und 18. Jahrhundert zuzuordnen. Bisher, so schreibt Archäologin Dr. Sonja König in der Fundchronik, gibt es nachweislich nur einen Produktionsort: Großalmerode im nördlichen Hessen. 1694 sei eine Lieferung von 23 000 Kugeln nach London nachweisbar. Sonja König geht davon aus, dass die Üller vor allem für die Kanonen auf Schiffen Verwendung fanden. Und sie zieht den Schluss: „Ob nun die Nutzung auf Schiffen oder auf den Wehranlagen der Stadt Emden – der Grund für die hohe Zahl an dort gefundenen Üllern bleibt offen.“ Bemerkenswert ist, dass Schlunck die Kugelfragmente ausschließlich auf dem Meister Geerds-Zwinger fand, dem ersten Zwinger im Westen der Stadt.

Die Üller weisen unterschiedliche Durchmesser auf. Die zerbrochenen Stücke haben scharfe Bruchstellen

Neben seiner eher besinnlichen Fundsuche auf dem Wall ist Schlunck häufig als Sondengänger unterwegs. Um überhaupt mit einem solchen Gerät den Boden abgehen zu dürfen, musste er eine umfangreiche Prüfung ablegen. Dabei ging es nicht nur um den Umgang mit der Sonde, sondern auch um die Art und Weise, wie man mit Fundstücken hantiert. Rechtliche Fragen wurden dabei ebenfalls behandelt. Denn der Sondengänger darf Fundstücke nicht behalten, sondern muss sie den Archäologen vorlegen. Diese begutachten die Objekte, bewerten und identifizieren sie. Auch dürfen Objekte nicht aus dem Fundzusammenhang herausgelöst werden, damit Datierungen und Zuordnungen möglich bleiben.

Zudem muss jeder Sondengang genehmigt werden. Der betreffende Eigentümer des Geländes wird angefragt, ebenso die Kommune, die Denkmalpflege. Es braucht Geduld, wenn Überzeugungsarbeit geleistet werden muss. Schlunck hat da bisher viel Zuspruch gefunden, da seine Kompetenz anerkannt ist. Da man mit Sonden ausschließlich Metallobjekte aufspüren und nur etwa 20 Zentimeter in den Boden „hineinhorchen“ kann, ist die Fundsituation entsprechend. So hat Schlunck schon aus einem Moorgelände eine Kreuzscheibenfibel aus der Zeit um 900 nach Christus herausgeholt. „Man fragt sich schon, wie die dahin kommt.“ Auch eine brasilianische Münze von 1790 tauchte im Boden bei Ihlowerfehn auf. Münzen aus der römischen Kaiserzeit findet er relativ viele, viel auch aus der frühen Neuzeit. Die Kaiserzeit ist weniger umfangreich.

Ein Zufallsfund, der passt: das Fliesenfragment zeigt einen Deichbruch

Und dann passieren auch interessante Beifunde. So brachte ein Bekannter einen Fund, den er als Bajonett ankündigte. Schlunck war skeptisch und vermutete eine Speerspitze aus dem späten Mittelalter. Es handelte sich jedoch um die Spitze einer Turnierlanze.

Mit seinen regelmäßigen Wallbegehungen macht Schlunck weiter. Zu den 1183 Pfeifenbruchstücken, die die Landschaft schon begutachtete, kommen weitere „rund 200“, die er in den letzten Monaten aus dem Boden holte. Bei den Üllern sieht es bescheidener aus. Bisher sind es 46 scharfkantige Bruchstücke und eine vollständige Kugel, die Schlunck entdeckte. Aber wer weiß, was er sonst noch alles finden wird?