Dimensionen der Musik

Emden. Mit einem faszinierenden Auftaktkonzert haben am Sonnabend, 18. Mai, die Gezeitenkonzerte im Festspielhaus am Wall begonnen. Es gab ein Orchester, eine Dirigentin und eine Solistin. Und was die auf die Bühne brachten, war wahrhaft meisterlich, war eine musikalische Topleistung.

Die Gäste des ausverkauften Festspielhauses nutzen beim Eröffnungskonzert der „Gezeiten“auch die Außenanlagen vor dem Eingangsbereich als Treffpunkt. Bilder: Karlheinz Krämer

Das große Staunen begann schon mit Joseph Haydns Ouvertüre „L’isola disabitata“ (Die unbewohnte Insel), die mit düsteren Klangfarben nicht geizte. Schon fragte man sich, warum etwas derartig Betrübliches am Beginn eines Auftaktkonzertes steht, da nahm die Dirigentin Ariane Matiakh die Aufmerksamkeit der Besucher im ausverkauften Saal ganz in Anspruch. Die Chefdirigentin der Württembergischen Philharmonie Reutlingen agierte stringent und unter ganzem Körpereinsatz, erzielte damit ein optimales Zusammenspiel und schuf einen transparenten, feinen Gesamtklang.

Das ist neu: das Bühnenhaus des Festspielhauses am Wall kann mit einem farbigen Lichtkranz akzentuiert werden

Ragnhild Hemsing kam gleich mit zwei Violinen auf die Bühne – die eine wurde 1694 von Francesco Ruggeri in Cremona gebaut. Das andere war eine Hardangerfiedel, die der Violinist und Komponisten Ole Bull (1810 bis 1880) gespielt haben soll. Und nun verbreitete sich ein wundersamer Zauber im Raum, denn Ragnhild Hemsing spielte Griegs „Peer Gynt-Suite“ zu Dreivierteln auf der Fiedel und überführte das Werk damit in ganz neue Dimensionen.

Violinistin Ragnhild Hemsing mit ihrer Hardangerfiedel aus dem 19. Jahrhundert

Die Hardangerfiedel, die zum Instrumentarium norwegischer Volksmusik gehört, hat – wie die Violine – vier Saiten. Dazu aber kommen noch fünf weitere, die unterhalb der Spielsaiten liegen und Resonanzen erzeugen, wenn die oberen gestrichen werden. Das erzeugt im Konzert nicht nur eine geheimnisvolle Tiefe, sondern verleiht dem Grieg’schen Werk ein deutliches Mehr an Authentizität. Die Violine kam bei Ragnhild Hemsing lediglich im 3. Satz, Anitras Tanz, zum Einsatz. Und natürlich war auch das ein Hörfest.

Die Holzbläser der Württembergischen Philharmonie Reutlingen

Die Vermischung von traditionellen Klängen und klassischer Musik erzeugte Klänge, die natürlicher und eingängiger zu sein scheinen, als das, was sonstigen Hörgewohnheiten entspricht. Ragnhild Hemsing spielte zunächst – solo – Einleitungen voller folkloristischer Anmutungen. Erst nach und nach schälten sich Klänge der Suite heraus, die dann mit den klassischen Instrumenten des Orchesters verschmolzen. Ein Erlebnis, das man einfach gehört haben muss, weil es sich so schwer beschreiben lässt. Als Zugabe spielte die Musikerin zwei kleine, traditionelle Stücke für Hardangerfiedel. Das Publikum reagierte mit frenetischem Applaus und Bravo-Rufen.


Nach der Pause gab es Beethoven. Die „Pastorale“ erklang, und man fragt sich, ob diese in Noten gegossene Beschreibung des Garten Eden wirklich von dieser Welt ist. Die Musik ist so schön, dass man geneigt sein könnte, an das Gute im Menschen zu glauben. Die Reutlinger spielten die Pastorale unter Ariane Matiakh mit natürlich inspirierten Spannungsbögen und solcher kreativer Kraft, dass die Enttäuschung über das Ende – trotz der Länge dieser Sinfonie von etwa 40 Minuten – spürbar wurde. Gar zu markant erhob sich die Musik über die Probleme des Alltags und schuf einen Freiraum, der keineswegs ablenkte, sondern geistige Frische erzeugte.


Zum Schluss umarmte ein strahlender künstlerischer Leiter Matthias Kirschnereit die Dirigentin, die sich klugerweise trotz des Beifalls sehr charmant einer Zugabe verweigerte. Was soll man einem solchen musikalischen Brillanten wie der „Pastorale“ auch folgen lassen?

Eingangs hatte der Präsident der Ostfriesischen Landschaft, Rico Mecklenburg, darauf verwiesen, dass das Festival mittlerweile von rund 150 Unternehmen, Einzelpersonen und Einrichtungen unterstützt wird. Der Freundeskreis der Gezeitenkonzerte, ebenfalls ein finanzstarker Sponsor, zähle derzeit 867 Mitglieder.

Matthias Kirschnereit nannte in seinem Grußwort die Gezeitenkonzerte eine Bürgerbewegung, die für Werte wie Demokratie, Respekt und Empathie eintrete. Und das sei in einer Zeit wie der heutigen wichtiger denn je.