Streiflichter der Aufklärung

Teil 4: Das aufklärerische Großprojekt, die „Encyclopédie“

Immanuel Kant, Philosoph der Aufklärung, Professor der Logik und Metaphysik in Königsberg, wurde vor 300 Jahren geboren und starb vor 220 Jahren. KiE würdigt den Wissenschaftler mit einer Serie, die ihn selbst, aber auch Zeitgenossen in den Blick nimmt und die Epoche anhand ihrer Theorien, Aussagen und Beiträge vorstellt.
Der Autor ist Wissenschaftshistoriker und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Johannes a Lasco Bibliothek, auf deren Buchbestände diese Serie unter anderem Bezug nimmt.

Von DR. MICHAEL WEICHENHAN

Emden. „Ziel einer Enzyklopädie ist es, die auf der Erde verstreuten Kenntnisse zu sammeln, das allgemeine System dieser Kenntnisse den Zeitgenossen darzulegen und denen zu überliefern, die nach uns kommen, damit die Mühen der vergangenen Jahrhunderte für die künftigen nicht umsonst gewesen seien, unsere Enkel nicht allein gebildeter, sondern auch tugendhafter und glücklicher würden und wir nicht sterben, ohne uns um das Menschengeschlecht verdient gemacht zu haben.“

Denis Diderot. Büste von Jean-Baptiste Pigalle (1777). Paris. Louvre

Mit diesen feierlichen Worten hat Denis Diderot (1713 bis 1784), treibende Kraft und einer der Herausgeber der „Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“ (Enzyklopädie, oder vernünftig geordnetes Lexikon der Wissenschaften, Künste und Handwerke) seinen Artikel „Encyclopédie“ eingeleitet. Wer von Aufklärung redet, spricht eher früher als später von diesem Großprojekt, das in erster Auflage, der sogenannten Pariser Folio-Ausgabe, zwischen 1751 und 1772 in 17 Text- und 11 Tafelbänden erschien.

Programm und Anspruch lassen aufhorchen. Wissen wird nicht nur erfasst und in alphabetischer Reihenfolge dargeboten wie in einem Lexikon, vielmehr soll es, wie der Untertitel des Werkes verheißt, auf eine vernunftgemäße bzw. methodische Weise präsentiert werden. Der Leser des Artikels, der den fünften Band auf Seite 635 aufgeschlagen hat, erfährt spätestens hier, dass er in einem Werk blättert, das sich an die Menschheit richtet. Deren Wissen wird gesammelt und geordnet mit dem Ziel, es in seinem Zusammenhang durchschaubar zu machen und den künftigen Generationen zu übergeben. Jeder wird auf diese Weise Teil einer Gemeinschaft, deren Ziel darin besteht, die Fachleuten und Spezialisten vorbehaltenen Kenntnisse allgemein zugänglich zu machen, um so die Bildung zu heben. Das aber geschieht nicht um ihrer selbst willen, sondern weil Wissenserwerb als Weg zu einem moralisch vollkommenen und glücklichen Leben gilt.

Etliche Zeilen später fällt dann auch das entscheidende Wort „aufklären“ – genau darin besteht der Sinn einer Enzyklopädie, wie sie Diderot und seinen Gefährten vorschwebte. Sie dient zwar nicht unmittelbar der Forschung, der Erweiterung des Wissens um neue Sachverhalte, aber ordnet das bereits vorhandene Wissen, „damit mehr Menschen aufgeklärt (éclairés) werden und jeder seiner Befähigung entsprechend am Licht seines Zeitalters teilhat.“

Die Encyclopédie also will aufklären, Helligkeit verbreiten und das Dunkel der Unwissenheit vertreiben. Erkennen mit dem Vorgang des Hellwerdens zu verbinden, hat eine lange Tradition. Sie reicht bis zu dem griechischen Philosophen Platon (428 bis 348 vor Christus) zurück und ist in der christlichen Theologie fest verankert. Das unkörperliche Licht, so hatte der Kirchenvater Augustinus (354 bis 430) geschrieben, befähigt den menschlichen Geist überhaupt erst, körperliche Dinge zu erkennen. Erkenntnis oder Einsicht wird in diesen Zusammenhängen stets in irgendeiner Weise an die Wirkung einer Lichtquelle wie der Sonne gebunden, die wiederum als Veranschaulichung Gottes gilt.

Davon setzen sich Diderot und die Autoren, die er für die Mitarbeit an der Encyclopédie hatte gewinnen können, unmissverständlich ab. Aufklärung bedeutet das Verbreiten von Licht, das der Mensch selbst entfacht, es gleicht insofern nicht der aufgehenden Sonne, sondern entzündeten Kerzen. Aufgeklärt sei der, der um bereits erworbene Kenntnisse weiß und sie anzuwenden versteht, heißt es im Artikel „Éclairé et clairvoyant“ (Aufgeklärt und klarsichtig). Wissen wird erworben, und es ist nicht abwegig, diesen Erwerb mit der Inbesitznahme von Ländereien zu vergleichen, die dem Dunkel der Unwissenheit entrissen werden und in vererbbares Besitztum übergehen.

Die erste Ausgabe der Encyclopédie, die sog. Pariser Folio-Ausgabe (1751 bis 1772). Sign. JaLB: Hist. 2° 309 (1) – (17) J; Hist. 2° 309 (Planches 1) – (Planches 12) J; Hist. 2° 309 (Suppl 1) – (Suppl 4) J. Die JaLB besitzt darüber hinaus die dritte Auflage, die in Genf und Neuchâtel 1777 bis 1779 im Quartformat in 36 Textbänden und drei Tafelbänden erschien. Beide Ausgaben stammen aus der Sammlung Johann Philipp Janssen.
Bilder: Wolfgang Mauersberger

Die Encyclopédie, dieses Monumentalwerk der Wissenspräsentation aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, informierte über so ziemlich alles, was als wissenswert galt: geographische Namen, Pflanzen und Tiere, Mythologie, Geschichte, Dichtung, Medizin, Astronomie. Es erklärte, wie Voltaire in einer kleinen Erzählung mit der ihm eigenen Ironie zum besten gab, dem Herzog de la Valière, einem Spezialisten für Schusswaffen, woraus das gegen Rebhühner und Menschen so wunderbar effiziente Schießpulver gefertigt wurde, klärte die Maitresse des Königs, Madame de Pompadour, über verschiedene Zusammensetzungen des Rouge auf, das ihren Wangen den verführerischen rötlichen Schimmer verlieh, und den König selbst über all die Rechte der französischen Krone. Querverweise sorgten dafür, dass man in den Stoff tiefer einzudringen vermochte und Einzelkenntnisse zu einem Netz verknüpft wurden, die Wissensfelder bildeten.

Informationsvermittlung war das eine. Was aber wäre das Unternehmen Encyclopédie gewesen ohne die Skandale, die die offenen und versteckten Angriffe auf eine der wichtigsten Säulen des französischen Königtums hervorriefen, den französischen Katholizismus? Sicher mochte es Subskribenten des Werkes geben, die es in erster Linie zu Rate zogen, um sich über eine Krankheit zu informieren, an der sie gerade leiden mochten, sich für all die medizinischen und biologischen Sachverhalte einschließlich der pikanten Details interessierten, die etwas wissen wollten von der Herstellung von Papier, Strümpfen oder Teppichen.

Man konnte sich in den über 1300 Artikeln, die der zeitweilige Mitherausgeber Jean Le Rond d’Alembert (1717 bis 1783) verfasst hatte, unter anderem über den Stand der mathematischen und astronomischen Forschungen belehren lassen. Gegenstand des gewaltigen öffentlichen Interesses wurde die mühevolle Arbeit an jenem Nachschlagewerk aber durch die ständige Konfrontation mit den kirchlichen Autoritäten, namentlich den Jesuiten.

Dafür sorgte schon die wichtigste Person dieses Unternehmens, Diderot. Der Zögling der Jesuitenschule seiner Heimatstadt Langres, später des von ihren (ebenfalls katholischen) Gegnern, den Jansenisten, geprägten Collège d’Harcourt in Paris, hatte sich bereits in den 1740er Jahren zu philosophischen Auffassungen bekannt, die die Autoritäten des Staates und der Kirche herausfordern mussten, da sie die katholische Kirche verspotteten, zentrale Lehren des Christentums angriffen, auf mehr oder weniger deutlich atheistische Positionen hinausliefen und damit an die Fundamente der französischen Monarchie rührten.

Eine Inhaftierung im Château de Vincennes im Jahre 1749 hatte dem freigeistigen Intellektuellen vor Augen stellen sollen, welchen Preis er für die Konfrontation mit den Mächtigen zu zahlen habe. Die Machtdemonstration endete nach drei Monaten; einflussreiche Kreise hatten sich für den Herausgeber der im Entstehen begriffenen Encyclopédie eingesetzt, nicht zuletzt, weil sie den Verlust des bereits in das Projekt investierten Geldes fürchteten.

Nach der Haft war Diderot fest entschlossen, das riesige in Angriff genommene Unternehmen zu einem erfolgreichen Ende zu führen, was ohne gewisse Rücksichtnahmen auf die Zensur nicht möglich war, dabei aber seine Überzeugungen nicht preiszugeben. Das bedeutete, Angriffe geschickt zu platzieren, hinter einer Maske Boshaftigkeiten zu verbergen, sich des Mittels der Verstellung, der Ironie, zu bedienen. Besonders bei denen, die die Encyclopédie nicht primär als sachliche Informationsquelle nutzen, erfreuen sich deshalb die Artikel besonderer Beliebtheit, die heikle, also vor allem religiöse Dinge betrafen.

Welches Lexikon sonst bietet das Vergnügen, sich mit dem Autor gleichsam augenzwinkernd hinter den Rücken der Zensoren zu verständigen? Gerade auf diesem Gebiet konnte sich ein emsiger Lexikograph zum Philosophen erheben, der Gelehrte sich als geistreicher und spöttischer Schriftsteller erweisen – und ließ die Leserschaft daran teilhaben.

Titelblatt des ersten Bandes der ersten Auflage

Wer in Auszügen der Encyclopédie liest, die in der Gegenwart erscheinen, begegnet aus verständlichen Gründen einer auf die philosophischen und religionskritischen Artikel ausgerichteten Auswahl; rein sachliche Informationen bezieht man heute aus zeitgemäßen Erzeugnissen wie der Wikipedia. Nun muss man sich darüber im Klaren sein, dass derartige Filter das Bild von der Encyclopédie mindestens ein wenig verzerren.

Denn das in ihr verkörperte Ziel, Unwissenheit zu bekämpfen und sich so von angemaßten Autoritäten zu befreien, erschöpfte sich nicht in Kritik an und Spott auf das katholische Christentum. Freilich spielte dieser Aspekt keine unbedeutende Rolle. Er bestimmte vor allem die Sicht derer, die sich angegriffen wussten und mittels der Zensur und durch Schmähschriften das Erscheinen der Encyclopédie zu verhindern und das Ansehen ihrer Autoren zu zerstören suchten. Weil es eben nicht nur um Schießpulver, die Zusammensetzung von Kosmetika und die Rechte des Königs ging, sondern auch um „Jesuiten“, „Aberglaube“, „Fanatismus“ oder „Priester“, begleitete die Publikation das ständige Donnerrollen derer, die das monumentale Nachschlagewerk, das obendrein vergnügliche Lektüren versprach, herausforderte.

Die große Bedeutung der Encyclopédie besteht aber nicht so sehr in den zahlreichen Sticheleien und antiklerikalen Bosheiten, vielmehr darin, ein gegenüber dem traditionellen völlig neues System des Wissens zu entwerfen. Über lange Zeit hatte die Bildung in den Händen kirchlicher Institutionen gelegen, durch die ja auch eine große Zahl der Autoren der Encyclopédie gegangen waren: den Schulen der Jansenisten und Jesuiten. Das waren alles andere als schlechte, in dumpfem Fanatismus dahindämmernde Einrichtungen. Aber sie waren eben geprägt von einem Konzept des Wissens, das an einer festen, einer göttlichen Ordnung ausgerichtet war, das deshalb gipfelte in Wissenschaften wie Metaphysik und Theologie, die zunehmend als „abgehoben“, als wirklichkeitsfern, überflüssig und beengend galten.

Das Wissenskonzept, das d’Alembert in seiner Vorrede zur Encyclopédie, dem Discours préliminaire, entwarf und das ihr zu Grunde lag, war hingegen auf den Menschen zugeschnitten. Der begegnet der Welt mit seinen Sinnen. Sprache, Worte und Begriffe sowie deren Verbindungen, schließlich die Errichtung von Wissenschaften, sind sein Werk, nicht aber Nachvollzug der göttlichen Ordnung.

Ebenso die Moral: Sie stammt nicht aus einer Offenbarung, sondern aus dem natürlichen Bedürfnis der Menschen, sich ihre Freiheit gegenüber Stärkeren zu sichern. Weil der Mensch von Natur aus frei ist, gilt Unterdrückung als Inbegriff des moralisch Bösen. Es ist klar, dass dieser Blick auf den Menschen dem Körper eine ganz entscheidende Rolle zuschreibt. Es ist nicht das Seelenheil, sondern die körperliche Selbsterhaltung, der seine Sorge gilt bzw. gelten soll.

Charakteristisch für die Encyclopédie ist die hohe Qualität der Abbildungen. Hier die Darstellung des Triumphbogens von Septimus Severus in Rom;
Planches Bd. 1, Antiquité, Nr. 3, Figur 3

Diderot, d’Alembert und ihre Mitarbeiter waren der festen Überzeugung, dass mit dieser Ausrichtung des Menschen auf diese Welt, der Ermunterung zu Neugier und dem Streben nach Wissen, der Bejahung der Bedürfnisse des Körpers, sich Aberglaube, Fanatismus, Ehrsucht und Habgier überwinden ließen.

Der aus den Fesseln befreite Mensch werde ein ebenso kluger wie tugendhafter Mensch sein, Dummheit, Knechtschaft, Gewalt und Krieg verabscheuen. Dass sich das als Illusion herausstellen und man auch künftig die geistigen Kräfte unter anderem zur Erzeugung von Fanatismus, für Gewalt und Krieg einsetzen würde, konnte man zur Zeit des Entstehens der Encyclopédie wohl kaum ahnen.

Das nicht zuletzt durch die zahlreichen Hindernisse, die seinem Erscheinen in den Weg gelegt wurden, schließlich so erfolgreiche Großprojekt war ein Kind der Krise der französischen Monarchie. Die neue Zeit, die das stolze Königtum, das sich bis auf den Frankenherrscher Chlodwig (gest. 511) zurückführte, in einer Revolution stürzen sollte und eine Herrschaft der Vernunft zu errichten versprach, war von den humanen Idealen, wie sie den Enzyklopädisten vorgeschwebt hatten, sicher ebenso weit entfernt wie die Gesellschaft des Ancien Régime. Sehr zum Verdruss seiner damaligen Freunde und Mitstreiter hatte ein anderer großer Aufklärer und Autor etlicher Artikel in der Encyclopédie, Jean-Jacques Rousseau (1712 bis 1778), schon 1752 kategorisch bestritten, dass Künste und Wissenschaften die Sitten der Menschen zu bessern in der Lage seien. Mit ihm werden wir uns in einem der nächsten Beiträge befassen.